Gaggenauer Industrieller Michael Flürscheim hat bereits um 1888 die Vision eines Bürgergeldes in ein „modernes Märchen“ verpackt.
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Von Michael Wessel
Gaggenau –Das Bürgergeld hat in Deutschland am 1. Januar 2023 das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld abgelöst. Wirklich neu ist die Idee aber nicht. Schon 1888 veröffentlichte der Gaggenauer Mitinhaber der Eisenwerke Michael Flürscheim seinen utopischen Roman „Die Galoschen des Glücks – Deutschland in 100 Jahren“, in dem er unter anderem ein besonderes Bürgergeld für möglich hält. Faszinierend sind auch weitere Ideen, die der erfolgreiche Unternehmer entwickelte. Um sich ganz der Umsetzung seiner Ideen zu widmen, wandelte er ebenfalls im Jahr 1888 die Eisenwerke in eine AG um und verkaufte seine Anteile.
In den fünfzehn Jahren von 1873 bis 1888 hatte Flürscheim die Eisenwerke von einer Werkstätte mit 40 Mitarbeitern – ab 1880 auch dank der Unterstützung seines späteren Teilhabers Theodor Bergmann – zu einem bedeutenden Industriebetrieb mit über 1000 Mitarbeitern entwickelt. Beispielhaft waren die sozialen Leistungen in den Eisenwerken wie Arbeiterkrankenkasse, Werkskantine, Fortbildungsmaßnahmen, Unterstützung beim Hausbau. Der Genossenschaftsgedanke faszinierte den Unternehmer so sehr, dass er einen Konsumverein gründete, der den Mitarbeitern preiswerte Nahrungsmittel und andere Artikel des täglichen Bedarfs anbieten konnte. Aber als „Sozialist der Tat“, wie er sich selbst bezeichnete, hielt es Flürscheim nicht länger in Gaggenau. Er wollte insbesondere seine Ideen zur Bodenreform und zum Genossenschaftswesen an anderen Orten umsetzen.
Mit seinen Visionen von einer besseren Zukunft wollte Flürscheim nicht nur mit Vorträgen in elitären Kreisen und mit dicken Büchern die Gelehrten erreichen. Er wollte auch unbedingt „das einfache Volk“ mit Zeitungsartilkeln für seine Ideen begeistern. Daher schrieb er beispielsweise verschiedene Beiträge für den Badischen Landboten. Darin stellte er in den Jahren 1886 und 1887 seine damals teilweise utopischen Zukunftsvisionen zu Deutschland in einhundert Jahren vor. Diese verpackte er in ein „modernes Märchen“. In ihm erscheinen einem Doktor Ehrhardt „in einem tollen Traum“ ein paar Galoschen, die nach dem Reinschlüpfen Wünsche erfüllen. Und siehe da: Auch nach dem Aufwachen erfüllen ihm seine eigenen Galoschen spontan den Wunsch nach mehreren Gläsern Bier. Doktor Ehrhardt besinnt sich dann aber schnell auf den anspruchsvolleren Wunsch, zu erfahren, wie Deutschland in 100 Jahren aussieht und wie die Menschen miteinander umgehen.
Und siehe da, es gibt in 100 Jahren ein aktives und sogar passives Frauenwahlrecht, Minuszinsen, Staubsauger sowie Fertighäuser für Arbeiter. Und es gibt auch ein Bürgergeld von 1000 Goldmark jährlich für jede Familie ohne Bedürftigkeitsprüfung. Aber nur jede dritte Familie nimmt laut Roman dieses zu Gunsten der Bedürftigen in Anspruch, wodurch diese letztlich 3000 Goldmark erhalten, was annähernd dem Einkommen der „besser Gestellten“ entspricht. Möglich wird diese Auszahlung unter anderem durch hohe Pachteinnahmen des Staates, dem inzwischen der Boden weitgehend gehört. Aber auf der anderen Seite sind auch die staatlichen Ausgaben drastisch gesunken durch die Abschaffung des Militärs und der Zollbeamten, durch minimale Gerichtsverfahren und die Übernahme bisheriger öffentlicher Funktionen durch Ehrenamtliche.
Doktor Ehrhardt ist auch verwundert, dass sich die Bevölkerung Deutschlands mit angenommenen 75 Millionen in 100 Jahren nicht wesentlich vermehrt hat und bekommt zur Erklärung: „Gerade in Folge des Wohlstands hat keine schnellere Vermehrung stattgefunden; denn der Wohlstand schafft Bildung, schafft Sinn für höhere Lebensgenüsse und die Kindererziehung wurde in Folge dessen eine vom Verstand kontrollierte, keine ungeregelte, dem blinden Zufall überlassene.“
Am Ende des Romans wird erklärt, dass Doktor Ehrhardt nur in einen zweiten Traum gefallen war. Überrascht war er dann, als er beim Studium der Tageszeitung einen Aufruf von Michael Flürscheim zur Gründung eines Vereins mit dem Ziel der Verstaatlichung von Grund und Boden las. Unterzeichnet war dieser von Michael Flürscheim, Fabrikbesitzer in Gaggenau. Das Werben für seine Ideen hatte Flürscheim offensichtlich gut verpackt.
Betrachtet man das Lebenswerk von Michael Flürscheim, dann hat er Ende des 19. Jahrhunderts bewiesen, dass es möglich ist, auch als außergewöhnlich sozial engagierter Unternehmer besonders erfolgreich zu sein. Als genialer Denker und Utopist machte er sich durch seine Bücher, Schriften und Vorträge international einen Namen als Kämpfer für die Bodenreformbewegung und das Genossenschaftswesen . Sein enormes persönliches und finanzielles Engagement in aller Welt war letztlich nicht von Erfolg gekrönt. Seine fünfzehn Gaggenauer Jahre waren jedoch für die industrielle Entwicklung des Murgtals ein Glücksfall.
(wess) – In dem 2014 erschienenen Buch „Michael Flürscheim – Industrieller, Sozialökonom, Utopist“ wird das außergewöhnliche Lebenswerk des ehemaligen Gaggenauer Unternehmers ausführlich beschrieben und sein utopischer Zukunftsroman „Die Galoschen des Glücks – Deutschland in 100 Jahren“ in voller Länge wiedergegeben. Erhältlich ist das Werk mit 150 Seiten zum Sonderpreis von 10 Euro im Unimog-Museum, in der Gaggenauer Buchhandlung Bücherwurm und über www.buchundbild.de mit Suchbegriff Flürscheim. Eine Lesehilfe mit den wesentlichen Stichworten zum Roman sowie eine im Badischen Tagblatt 2012 erschienene Biografie von Michael Flürscheim ist zudem auf www.murgtal-chronik.de zu finden.
Erstveröffentlichung in den Badischen Neuesten Nachrichten und im Badischen Tagblatt vom 4. Januar 2023