Michael Flürscheim und sein Bürgergeld

Gaggenauer Industrieller Michael Flürscheim hat bereits um 1888 die Vision eines Bürgergeldes in ein „modernes Märchen“ verpackt.

See English version below

Michael Flürscheim (1844 – 1912) entwickelte und veröffentlichte seine ersten sozialreformerischen Idee bereits in den 1880er Jahren als Inhaber der Eisenwerke Gaggenau –  Repro Michael Wessel

Von Michael Wessel

Gaggenau –Das Bürgergeld hat in Deutschland am 1. Januar 2023 das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld abgelöst. Wirklich neu ist die Idee aber nicht. Schon 1888 veröffentlichte der Gaggenauer Mitinhaber der Eisenwerke Michael Flürscheim seinen utopischen Roman „Die Galoschen des Glücks – Deutschland in 100 Jahren“, in dem er unter anderem ein besonderes Bürgergeld für möglich hält. Faszinierend sind auch weitere Ideen, die der erfolgreiche Unternehmer entwickelte. Um sich ganz der Umsetzung seiner Ideen zu widmen, wandelte er ebenfalls im Jahr 1888 die Eisenwerke in eine AG um und verkaufte seine Anteile.

In den fünfzehn Jahren von 1873 bis 1888 hatte Flürscheim die Eisenwerke von einer Werkstätte mit 40 Mitarbeitern – ab 1880 auch dank der Unterstützung seines späteren Teilhabers Theodor Bergmann – zu einem bedeutenden Industriebetrieb mit über 1000 Mitarbeitern entwickelt. Beispielhaft waren die sozialen Leistungen in den Eisenwerken wie Arbeiterkrankenkasse, Werkskantine, Fortbildungsmaßnahmen, Unterstützung beim Hausbau. Der Genossenschaftsgedanke faszinierte den Unternehmer so sehr, dass er einen Konsumverein gründete, der den Mitarbeitern preiswerte Nahrungsmittel und andere Artikel des täglichen Bedarfs anbieten konnte. Aber als „Sozialist der Tat“, wie er sich selbst bezeichnete, hielt es Flürscheim nicht länger in Gaggenau. Er wollte insbesondere seine Ideen zur Bodenreform und zum Genossenschaftswesen an anderen Orten umsetzen.

Mit seinen Visionen von einer besseren Zukunft wollte Flürscheim nicht nur mit Vorträgen in elitären Kreisen und mit dicken Büchern die Gelehrten erreichen. Er wollte auch unbedingt „das einfache Volk“ mit Zeitungsartilkeln für seine Ideen begeistern. Daher schrieb er beispielsweise verschiedene Beiträge für den Badischen Landboten.  Darin stellte er in den Jahren 1886 und 1887 seine damals teilweise utopischen Zukunftsvisionen zu Deutschland in einhundert Jahren vor. Diese verpackte er in ein „modernes Märchen“. In ihm erscheinen einem Doktor Ehrhardt „in einem tollen Traum“ ein paar Galoschen, die nach dem Reinschlüpfen Wünsche erfüllen. Und siehe da: Auch nach dem Aufwachen erfüllen ihm seine eigenen Galoschen spontan den Wunsch nach mehreren Gläsern Bier. Doktor Ehrhardt besinnt sich dann aber schnell auf den anspruchsvolleren Wunsch, zu erfahren, wie Deutschland in 100 Jahren aussieht und wie die Menschen miteinander umgehen.

Und siehe da, es gibt in 100 Jahren ein aktives und sogar passives Frauenwahlrecht, Minuszinsen, Staubsauger sowie Fertighäuser für Arbeiter. Und es gibt auch ein Bürgergeld von 1000 Goldmark jährlich für jede Familie ohne Bedürftigkeitsprüfung. Aber nur jede dritte Familie nimmt laut Roman dieses zu Gunsten der Bedürftigen in Anspruch, wodurch diese letztlich 3000 Goldmark erhalten, was annähernd dem Einkommen der „besser Gestellten“ entspricht. Möglich wird diese Auszahlung unter anderem durch hohe Pachteinnahmen des Staates, dem inzwischen der Boden weitgehend gehört. Aber auf der anderen Seite sind auch die staatlichen Ausgaben drastisch gesunken durch die Abschaffung des Militärs und der Zollbeamten, durch minimale Gerichtsverfahren und die Übernahme bisheriger öffentlicher Funktionen durch Ehrenamtliche.

Doktor Ehrhardt ist auch verwundert, dass sich die Bevölkerung Deutschlands mit angenommenen 75 Millionen in 100 Jahren nicht wesentlich vermehrt hat und bekommt zur Erklärung: „Gerade in Folge des Wohlstands hat keine schnellere Vermehrung stattgefunden; denn der Wohlstand schafft Bildung, schafft Sinn für höhere Lebensgenüsse und die Kindererziehung wurde in Folge dessen eine vom Verstand kontrollierte, keine ungeregelte, dem blinden Zufall überlassene.“

Am Ende des Romans wird erklärt, dass Doktor Ehrhardt nur in einen zweiten Traum gefallen war. Überrascht war er dann, als er beim Studium der Tageszeitung einen Aufruf von Michael Flürscheim zur Gründung eines Vereins mit dem Ziel der Verstaatlichung von Grund und Boden las. Unterzeichnet war dieser von Michael Flürscheim, Fabrikbesitzer in Gaggenau. Das Werben für seine Ideen hatte Flürscheim offensichtlich gut verpackt.

Betrachtet man das Lebenswerk von Michael Flürscheim, dann hat er Ende des 19. Jahrhunderts bewiesen, dass es möglich ist, auch als außergewöhnlich sozial engagierter Unternehmer besonders erfolgreich zu sein. Als genialer Denker und Utopist machte er sich  durch seine Bücher, Schriften und Vorträge international einen Namen als Kämpfer für die Bodenreformbewegung und das Genossenschaftswesen . Sein enormes persönliches und finanzielles Engagement in aller Welt war letztlich nicht von Erfolg gekrönt. Seine fünfzehn Gaggenauer Jahre waren jedoch für die industrielle Entwicklung des Murgtals ein Glücksfall.

Mehr zu Michael Flürscheim

(wess) – In dem 2014 erschienenen Buch „Michael Flürscheim – Industrieller, Sozialökonom, Utopist“ wird das außergewöhnliche Lebenswerk des ehemaligen Gaggenauer Unternehmers ausführlich beschrieben und sein utopischer Zukunftsroman „Die Galoschen des Glücks – Deutschland in 100 Jahren“ in voller Länge wiedergegeben. Erhältlich ist das Werk mit 150 Seiten zum Sonderpreis von 10 Euro im Unimog-Museum, in der Gaggenauer Buchhandlung Bücherwurm und über www.buchundbild.de mit Suchbegriff Flürscheim. Eine Lesehilfe mit den wesentlichen Stichworten zum Roman sowie eine im Badischen Tagblatt 2012 erschienene Biografie von Michael Flürscheim ist zudem auf www.murgtal-chronik.de zu finden.

Erstveröffentlichung in den Badischen Neuesten Nachrichten und im Badischen Tagblatt vom 4. Januar 2023

Michael Flürscheim and his citizen’s income

Gaggenau industrialist had the vision of a citizen’s income as early as 1888. 

By Michael Wessel
Gaggenau -The citizen’s income replaced unemployment benefit II and social benefit in Germany on January 1, 2023. However, the idea is not really new. As early as 1888, Michael Flürscheim, co-owner of the ironworks in Gaggenau, published his utopian novel „Die Galoschen des Glücks – Deutschland in 100 Jahren“ (The Galoshes of Happiness – Germany in 100 Years), in which he considers, among other things, a special citizen’s income to be possible. Other ideas developed by the successful entrepreneur are also fascinating. In order to devote himself entirely to implementing his ideas, he also converted the ironworks into a joint stock company in 1888 and sold his shares.
In the fifteen years from 1873 to 1888 Flürscheim had developed the ironworks from a workshop with 40 employees – from 1880 also thanks to the support of his later partner Theodor Bergmann – into an important industrial enterprise with over 1000 employees. The social benefits in the ironworks were exemplary, such as the workers‘ health insurance fund, the works canteen, training measures and support for house building. The cooperative idea fascinated the entrepreneur so much that he founded a consumer association that could offer the employees cheap food and other articles of daily use. But as a „socialist of action“, as he called himself, Flürscheim could no longer stay in Gaggenau. He particularly wanted to implement his ideas on land reform and cooperatives in other places.
With his visions of a better future, Flürscheim not only wanted to reach the scholars with lectures in elite circles and thick books. He was also determined to inspire „the common people“ with newspaper articles about his ideas. Therefore, for example, he wrote various articles for the Badischer Landboten.  In these, in 1886 and 1887, he presented his then partly utopian visions of the future of Germany in one hundred years.
And lo and behold, in 100 years there will be active and even passive women’s suffrage, minus interest rates, hoovers as well as prefabricated houses for workers. And there is also a citizen’s allowance of 1000 gold marks a year for every family without means testing. But according to Roman, only every third family makes use of this for the benefit of the needy, which means that they ultimately receive 3000 gold marks, which is roughly equivalent to the income of the „better off“. This payment is made possible, among other things, by high rental income from the state, which now largely owns the land. But on the other hand, state expenditure has also fallen drastically due to the abolition of the military and customs officials, minimal court cases and the takeover of previous public functions by volunteers.
Doctor Ehrhardt is also surprised that Germany’s population, assumed to be 75 million, has not increased significantly in 100 years and is given the following explanation: „It is precisely in consequence of prosperity that no more rapid increase has taken place; for prosperity creates education, creates a sense of higher pleasures in life, and the upbringing of children has consequently become one controlled by reason, not an unregulated one left to blind chance.“
At the end of the novel it is explained that Doctor Ehrhardt had only fallen into a second dream. He was then surprised when, while studying the daily newspaper, he read an appeal by Michael Flürscheim to found an association with the aim of nationalising land. It was signed by Michael Flürscheim, a factory owner in Gaggenau. Flürscheim had obviously packaged the promotion of his ideas well.
Looking at Michael Flürscheim’s life’s work, he proved at the end of the 19th century that it is possible to be particularly successful even as an exceptionally socially committed entrepreneur. A brilliant thinker and utopian, he made a name for himself internationally through his books, writings and lectures as a fighter for the land reform movement and cooperativeism . His enormous personal and financial commitment all over the world was ultimately not crowned with success. However, his fifteen years in Gaggenau were a stroke of luck for the industrial development of the Murg valley.
The book „Michael Flürscheim – Industrialist, Social Economist, Utopian“, published in 2014, describes the extraordinary life’s work of the former Gaggenau entrepreneur in detail and reproduces his utopian novel about the future „Die Galoschen des Glücks – Deutschland in 100 Jahren“ in full. The 150-page work is available at a special price of 10 euros at the Unimog Museum, at the Gaggenau bookshop Bücherwurm and at www.buchundbild.de with the search term Flürscheim. A reading aid with the essential keywords for the novel and a biography of Michael Flürscheim published in the Badisches Tagblatt in 2012 can also be found at www.murgtal-chronik.de.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert